Es kommt nicht so häufig vor, dass man einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht stellt und Akteneinsicht beantragt, das Finanzamt aber nicht die Akten ans Gericht übersendet, sondern sogleich die erstrebte Aussetzung der Vollziehung gewährt. So aber geschehen in einem aktuellen Fall.
Zweckwidrig verwendete Kautionen als verdeckte Gewinnausschüttung?
Nach einer Betriebsprüfung kam das Finanzamt zu der Auffassung, der Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH habe Mietkautionen zweckwidrig verwendet. Dies stelle eine verdeckte Gewinnausschüttung dar.
Ich erhob Einspruch und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV). Nach meiner Auffassung gehören die Kautionen nicht zum Betriebsvermögen der GmbH, können also keine Gewinnauswirkung haben. Daher komme insoweit auch keine Ausschüttung eines Gewinns in Betracht, weder offen noch verdeckt.
Interessanterweise gewährte das Finanzamt die AdV auf Ebene der GmbH, nicht dagegen beim Einkommensteuerbescheid des Gesellschafter-Geschäftsführers.
Erledigung des Rechtsstreits, Finanzamt trägt Kosten
Nach Ablehnung des AdV-Antrags durch das Finanzamt beantragte ich für den Gesellschafter-Geschäftsführer die AdV beim Sächsischen Finanzgericht. Das Finanzamt half aber sofort nach Antragstellung ab und gewährte selbst die AdV. Dadurch hat sich der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt und das Finanzamt muss die Kosten des Verfahrens tragen.
Am 11.11.2022 hielt ich in Berlin einen 5stündigen Online-Vortrag zum Thema „Aktuelle Entwicklungen im Steuerstrafrecht“ für das Deutsche Anwaltsinstitut.
Unternehmer müssen bis zum zehnten Tag nach Ablauf des Voranmeldungszeitraums eine Umsatzsteuervoranmeldung beim Finanzamt einreichen und die Vorauszahlung entrichten. Ist Voranmeldungszeitraum der Kalendermonat, dann ist die Umsatzsteuervorauszahlung für Dezember bis zum 10.01. des Folgejahres zu entrichten.
In welche Einnahmen-Überschuss-Rechnung?
In der Praxis kommt es bei Einnahmen-Überschuss-Rechnern immer wieder zum Streit darüber, in welches Jahr (d. h., in welche Steuererklärung bzw. Einnahmen-Überschuss-Rechnung) die für Dezember geleistete Umsatzsteuervorauszahlung gehört.
Beispiel
Sachverhalt: Unternehmer U reicht die Umsatzsteuervoranmeldung für Dezember 2020 am 10.01.2021 beim Finanzamt ein und überweist noch am gleichen Tag die Umsatzsteuervorauszahlung (2.500,00 €).
Gehören die 2.500,00 € in die Einnahmen-Überschuss-Rechnung (EÜR) 2020 oder in die EÜR 2021?
Grundsätzlich sind Ausgaben für das Kalenderjahr abzusetzen, in dem sie geleistet worden sind (§ 11 Abs. 2 S. 1 EStG).
Im Beispielsfall hieße das: Die Umsatzsteuervorauszahlung für Dezember 2020 gehört in die EÜR 2021.
Allerdings gibt es eine Sondervorschrift für regelmäßig wiederkehrende Ausgaben: Wenn solche Ausgaben kurze Zeit vor Beginn oder kurze Zeit nach Beendigung des Kalenderjahres, zu dem sie wirtschaftlich gehören, abgeflossen sind, dann gelten sie als in diesem Kalenderjahr geleistet (§ 11 Abs. 2 S. 2 in Verbindung mit § 11 Abs. 1 S. 2 EStG). Die Rechtsprechung definiert „kurze Zeit“ als höchstens 10 Tage und behandelt Umsatzsteuervorauszahlungen als regelmäßig wiederkehrende Ausgaben.
Lösung: Im Beispielsfall gehört die Umsatzsteuervorauszahlung für Dezember 2020 also richtigerweise in die EÜR 2020, da es sich um eine regelmäßig wiederkehrende Ausgabe handelt, die innerhalb kurzer Zeit (10-Tages-Zeitraum) nach Beendigung des Kalenderjahres (hier: 2020) abgeflossen ist.
Besonderheit bei Dauerfristverlängerung
Bei einer so genannten Dauerfristverlängerung (§ 46 UStDV) verschiebt sich die Fälligkeit der Umsatzsteuervorauszahlung für Dezember auf den 10.02. des Folgejahres. Der Bundesfinanzhof (BFH) entschied mit Urteil vom 21.06.2022, Az. VIII R 25/20, dass eine Umsatzsteuervorauszahlung für Dezember, die zwar innerhalb des 10-Tages-Zeitraums gezahlt, aber aufgrund einer Dauerfristverlängerung erst später fällig wurde, abweichend von § 11 Abs. 2 S. 2 EStG erst im Jahr des Abflusses als Betriebsausgabe abgezogen werden kann.
Abwandlung des Beispiels (angelehnt an BFH, 21.06.2022, VIII R 25/20)
Sachverhalt: Unternehmer U überweist die Umsatzsteuervorauszahlung für Dezember 2017 am 10.01.2018 an das Finanzamt. Es besteht eine Dauerfristverlängerung. U erfasst die Vorauszahlung in der EÜR 2017 als Betriebsausgabe.
Lösung: Zwar wurde die Umsatzsteuervorauszahlung für Dezember 2017 (vorfristig) innerhalb des 10-Tages-Zeitraums nach Ablauf des Kalenderjahres (2017) gezahlt. Allerdings wurde die Vorauszahlung aufgrund der Dauerfristverlängerung erst später (10.02.2018) fällig. Nach der BFH-Entscheidung ist § 11 Abs. 2 S. 2 EStG damit nicht anwendbar.
Die Umsatzsteuervorauszahlung für Dezember 2017 ist somit in der EÜR 2018 als Betriebsausgabe zu berücksichtigen.
Was tun, wenn erst die Betriebsprüfung den „Unfall“ aufdeckt?
In der Praxis kommt typischerweise einige Jahre später die Betriebsprüfung (BP) und deckt auf, dass – wie in der Abwandlung des Beispiels – die Umsatzsteuervorauszahlung für Dezember 2017 zu Unrecht in der EÜR 2017 angesetzt wurde und nicht in der EÜR 2018. Dann wird die BP die Vorauszahlung nicht als Betriebsausgabe in 2017 anerkennen.
Der Steuerpflichtige wird jetzt begehren, dass die Vorauszahlung in 2018 als Betriebsausgabe anerkannt wird. Häufig ist die Veranlagung (Einkommensteuerbescheid oder Gewinnfeststellungsbescheid) für 2018 aber schon bestandskräftig, so dass eine Korrektur nur dann in Betracht kommt, wenn eine Änderungsvorschrift eingreift. Wenn man Glück hat, steht der Bescheid für 2018 noch unter Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO). Dann kann der Bescheid ohne weiteres auf Antrag geändert werden.
Besteht kein Vorbehalt der Nachprüfung (mehr), dann scheiden andere Änderungsnormen (insb. §§ 129, 173 Abs. 1 Nr. 2, 174 Abs. 3 AO) grundsätzlich aus (BFH, 17.05.2017, X R 45/16; 03.05.2017, X R 4/16). Zu denken wäre allenfalls an § 177 Abs. 1 AO.
In dem Beitrag „Finanzamt vollstreckt zu früh aus Sicherungshypothek“ (Februar 2022) hatte ich von einem Fall berichtet, in dem das Finanzamt kurz vor Weihnachten einen Zwangsversteigerungsantrag gegen eine Mandantin stellte, diesen aber nach meiner Intervention zurücknahm. Daraufhin wurde das Zwangsversteigerungsverfahren aufgehoben.
Amtsgericht: Mandantin soll trotzdem Verfahrenskosten tragen
Das zuständige Amtsgericht befand gleichwohl, dass meine Mandantin die Kosten zu tragen habe. „Die Kosten des Verfahrens hat die Schuldnerin gemäß § 788 ZPO zu tragen. Grundsätzlich besteht die Pflicht zur Kostentragung durch den Schuldner für alle notwendigen Zwangsvollstreckungskosten, § 788 Abs. 1 Satz 1 ZPO. … Eine Notwendigkeit besteht nicht für Kosten unzulässiger, schikanöser, überflüssiger oder erkennbar aussichtsloser Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. … Diesbezüglich ist … den Ausführungen des Gläubigers zu folgen.“
Das Amtsgericht bescheinigte dem Finanzamt, dass der Zwangsversteigerungsantrag rechtmäßig gewesen sei. Für „Schikane“ sah das Amtsgericht offenbar keinerlei Anhaltspunkte; hierzu enthält der Beschluss aber auch keine Begründung.
Sofortige Beschwerde: Landgericht legt Finanzamt die Kosten auf
Hiergegen legte ich für meine Mandantin sofortige Beschwerde ein. Das Landgericht Halle (Saale) hob mit Beschluss vom 10.10.2022, Az. 1 T 195/22, die amtsgerichtliche Entscheidung auf und entschied, dass der Gläubiger – also das Finanzamt – die Kosten des Zwangsversteigerungsverfahrens zu tragen habe.
Das Landgericht stellte maßgeblich auf die schriftliche Zusicherung des Finanzamtes ab, bis zur Entscheidung des Finanzgerichts keine weiteren Vollstreckungsmaßnahmen durchzuführen. „Aufgrund dieses Schreibens durfte die Schuldnerin und Beschwerdeführerin zu Recht davon ausgehen, dass kein Zwangsversteigerungsverfahren beantragt wird, es sei denn, dass in der Zwischenzeit das Finanzgericht über ihre Klage zu ihren Lasten entscheiden bzw. das Finanzgericht rechtliche Hinweise erlassen würde, die auf die Erfolglosigkeit der Klage vor dem Finanzgericht hindeuteten. Hierzu hat der Gläubiger … nicht mehr vorgetragen. …
Das Verhalten des Gläubigers ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar, es handelt sich dabei um einen offenbar schikanösen und überflüssigen Antrag, der kurz vor Weihnachten bei dem Vollstreckungsgericht gestellt und am 17.01.2022 ohne weitere Begründung wieder zurückgenommen wurde. … Die sofortige Beschwerde war aus vorstehenden Gründen erfolgreich.“
Die Voraussetzungen des § 322 Abs. 4 AO sah das Landgericht dagegen – anders als ich – als eingehalten an. Aber das hatte keinen Einfluss auf die Entscheidung.
Wird durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt, so ist der zu erstattende oder zu vergütende Betrag vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen (§ 236 Abs. 1 S. 1 AO).
Der Bundesfinanzhof (BFH) entschied mit Urteil vom 17.05.2022, Az: VII R 34/19, dass kein Anspruch auf Prozesszinsen gemäß § 236 AO besteht, wenn und soweit im Klageverfahrens die Vollziehung des Steuerbescheides aufgehoben und daraufhin die gezahlten Steuern an den Steuerpflichtigen zurückgezahlt wurden.
Im zugrundeliegenden Fall wurden die Steuern zunächst gezahlt, später aber ein Antrag auf Aufhebung der Vollziehung gestellt. Daraufhin zahlte das Finanzamt die Steuern zurück. Ab diesem Zeitpunkt bestehe kein Zinsanspruch mehr, so der BFH.
Praxis-Tipp
Die Höhe der Prozesszinsen beträgt 6 % pro Jahr (§ 238 Abs. 1 AO). Die „Zinsentscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, 08.07.2021, 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) und die daraufhin ergangene Neuregelung der Zinshöhe (1,8 % pro Jahr) betreffen nur die Nachzahlungs- bzw. Erstattungszinsen i. S. v. § 233a AO (§ 238 Abs. 1a AO).
Die sächsische Finanzverwaltung hat die Steuerfahndungs-Statistik für 2021 veröffentlicht. Demnach sei 2021 von den drei Steufa-Stellen in Sachsen (Finanzämter Leipzig II, Chemnitz-Süd und Dresden-Nord) ein Steuerschaden von insgesamt 88 Millionen Euro aufgedeckt worden. Das größte Mehrergebnis entfalle auf die Umsatzsteuer (55 Millionen Euro).
Apropos „Mehrergebnis“: Die Aussagekraft der Zahlen ist mit Vorsicht zu genießen. Offensichtlich fließen dort (nur) die ursprünglichen Feststellungen der Fahndungsprüfung ein. Jeder Berater, der auf diesem Gebiet tätig ist, weiß aber, dass sich später im Einspruchs- oder Finanzgerichtsverfahren die Feststellungen der Steufa deutlich reduzieren können, insbesondere in Schätzungsfällen. Das spiegelt sich aber nicht in der Statistik wider.
Nach der Fahndungsprüfung ist vor dem Rechtsbehelfsverfahren!
Die sächsische Finanzverwaltung hat die Steuerfahndungs-Statistik für 2022 veröffentlicht. Demnach sei 2022 von den drei Steufa-Stellen in Sachsen (Finanzämter Leipzig II, Chemnitz-Süd und Dresden-Nord) ein Steuerschaden von insgesamt 122 Millionen Euro aufgedeckt worden. Vor allem im Zusammenhang mit Umsatzsteuerkarussellen und Kryptowährungen komme es vermehrt zu Steuerhinterziehungen.
Praxis-Tipp
Apropos „Steuerschaden“: Die angegebenen 122 Millionen Euro sind mit Vorsicht zu genießen. Dort fließen (nur) die ursprünglichen Feststellungen der Fahndungsprüfung ein. Jeder Berater, der auf diesem Gebiet tätig ist, weiß aber, dass sich später im Einspruchs- oder Finanzgerichtsverfahren die Feststellungen der Steufa deutlich reduzieren können, insbesondere in Schätzungsfällen. Das spiegelt sich aber nicht in der Statistik wider. Nach der Fahndungsprüfung ist also vor dem Rechtsbehelfsverfahren.
Trotzdem „spielt die Musik“ normalerweise bei den Feststellungen der Steufahndungsstelle, die später im Fahndungsprüfungsbericht zusammengefasst werden. Eine frühzeitige Kontaktaufnahme und Gespräche (ggf. auch Verständigungsversuche) des Verteidigers mit dem Fahndungsprüfer sind meist sinnvoll.
Wenn die Besteuerungsgrundlagen nicht ermittelt oder berechnet werden können, dann darf und muss die Finanzbehörde schätzen (§ 162 Abs. 1 AO). Zu schätzen ist insbesondere dann, wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden können.
Auf die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung kommt es an
§ 158 AO besagt, dass formell ordnungsmäßige Buchführungen und Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen der Besteuerung zugrunde zu legen sind, soweit nach den Umständen des Einzelfalls kein Anlass besteht, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden. Bei einer formell ordnungsmäßigen Buchführung wird also gesetzlich vermutet, dass sie auch sachlich richtig ist.
Das Finanzamt – meist in Gestalt der Betriebsprüfung – wird regelmäßig nach Gründen suchen, warum die Buchführung nicht formell ordnungsgemäß sei, um die Vermutung des § 158 AO zu beseitigen und sodann schätzen zu können.
Seit einigen Jahren greifen die Finanzämter verstärkt zu der Behauptung, die vorgelegte Verfahrensdokumentation sei mangelhaft. Damit sei die Buchführung formell ordnungswidrig, so dass eine Schätzung zulässig sei.
So auch in meinem Fall. Ich vertrat eine GmbH, die im Bereich der Systemgastronomie tätig war. Das Finanzamt begründete im Rahmen einer Betriebsprüfung für die Jahre 2014 bis 2016 unter Verweis auf das BMF-Schreiben vom 14.11.2014 eine Schätzungsbefugnis u. a. damit, dass die Verfahrensdokumentation in Gestalt der Datensatzbeschreibung mangelhaft sei. Damit sei die Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Kassendaten erheblich beeinträchtigt. Daher könnten „die Kassendaten nicht nach § 158 AO der Besteuerung zugrunde gelegt werden.“ Dies habe „zur Folge, dass gemäß § 162 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Absatz 1 AO die daraus resultierenden Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden müssen.“
„Zum Hier-Essen oder zum Mitnehmen?“ – Testkäufe
Sodann gruppierte die Betriebsprüfung die „Außer-Haus-“ und „Im-Haus-Umsätze“ um, weil „einige Bediener überdurchschnittlich viele Buchungen ‚außer Haus‘, d. h. zum ermäßigten Steuersatz, vorgenommen haben.“ Das erscheine „unwahrscheinlich“ und könne nicht anerkannt werden. „Insoweit liegt aus Sicht der Betriebsprüfung ein materieller Mangel vor.“
Flankierend nahm das Finanzamt im Jahr 2019 vier Testkäufe vor, um das Verhältnis der „Außer-Haus-“ und „Im-Haus-Umsätze“ zu überprüfen. „Bei zwei dieser Stichproben wurden auf den Kassenbons zu niedrige Steuersätze mit dem Aufdruck ‚zum Mitnehmen‘ ausgewiesen, obwohl die Speisen vor Ort verzehrt wurden.“ Folge: Die Umsätze zu 7 % (ermäßigter Steuersatz, „zum Mitnehmen“) wurden von der Beitriebsprüfung reduziert und die Umsätze zu 19 % stark erhöht, was zu Umsatzsteuernachforderungen führte.
Hiergegen legte ich für meine Mandantin Einspruch ein. Das Einspruchsverfahren ist noch anhängig. Allerdings lehnte das Finanzamt die beantragte Aussetzung der Vollziehung (AdV) ab, so dass ich für meine Mandantschaft einen AdV-Antrag beim Finanzgericht stellte.
Finanzgericht relativiert Bedeutung der Verfahrensdokumentation
Das Finanzgericht gab meinem AdV-Antrag insoweit statt (Beschluss vom 28.09.2022, Az. 1 V 864/21). Es verneinte schon den Schätzungsanlass. Es sei „zweifelhaft, ob ein Schätzungsanlass deswegen besteht, weil die Betriebsprüfung zur Beschaffung der Kassendaten mehrere Anläufe benötigte und … ‚unverhältnismäßig viel Zeit‘ aufwendete.“ Das hatte das Finanzamt ebenfalls bemängelt.
Dem Finanzamt könne „auch nicht darin gefolgt werden, dass hier eine grob mangelhafte Datensatzbeschreibung die Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit der Kassendaten erheblich beeinträchtige, was dem Fehlen einer Bedienungsanleitung gleichkomme. Eine fehlende oder ungenügende Verfahrensdokumentation stellt nicht ohne weiteres einen Verstoß gegen die Vorschriften der §§ 142 ff. AO dar.“ Zudem biete „die Dokumentation, deren Fehlen das FA beanstandet, keine Gewähr dafür, dass bei den Umsätzen der richtige Steuersatz angewandt wurde.“
„Unwahrscheinlichkeiten“ genügen nicht und Testkäufe hier ungeeignet
Und weiter heißt es in dem Beschluss: „Eine formell ordnungsmäßige Buchführung kann nur verworfen werden, soweit die Buchführung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sachlich unrichtig ist … Das FA hält die Verteilung der Umsätze auf die verschiedenen Steuersätze, die sie bei einigen Angestellten festgestellt hat, für unwahrscheinlich. Das ist weniger als die Feststellung, dass die Zuordnung der Umsätze mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch ist.
Auch die Testkäufe seien ungeeignet, um die sachliche Richtigkeit der Buchführung zu widerlegen. „Das FA will die sachliche Unrichtigkeit weiter daraus herleiten, dass bei zwei von vier im Febr. 2019 durchgeführten Testkäufen die USt falsch ausgewiesen worden sei … Die sachliche Richtigkeit einer Buchführung kann nicht allein durch stichprobenweise Überprüfung einzelner Geschäftsvorfälle widerlegt werden … Hier kommt hinzu, dass die Testkäufe geraume Zeit nach dem Prüfungszeitraum stattfanden.“
Praxis-Tipp
Die Entscheidung zeigt, dass man die Flinte nicht zu früh ins Korn werfen sollte, wenn das Finanzamt die Verfahrensdokumentation bemängelt und daraus eine Schätzungsbefugnis herleiten will.
Das BMF-Schreiben vom 14.11.2014 – Schreiben betr. Grundsätze zur ordnungsmäßigen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie zum Datenzugriff (GoBD) vom 14.11.2014, BStBl. I 2014, 1450 – ist „Innenrecht“ der Verwaltung – Steuerpflichtige und die finanzgerichtliche Rechtsprechung sind hieran grundsätzlich nicht gebunden. Nach Rz. 183 des BMF-Schreibens ist dieses zudem erst auf Veranlagungszeiträume anzuwenden, die nach dem 31.12.2014 (also ab 01.01.2015) beginnen.
Beachte ab 01.01.2020 das entsprechende BMF-Schreiben vom 28.11.2019 (BStBl. I 2019, 1269).
Endet ein Steuerstrafverfahren mit einer rechtskräftigen Verurteilung (oder einem Strafbefehl), erhält der Mandant im Normalfall auch Post vom Bundeskartellamt, wenn die Steuerhinterziehung einen unternehmerischen Bezug hat.
Hintergrund ist das Wettbewerbsregister, das bei dieser Behörde geführt wird. Öffentliche Auftraggeber (Bund, Länder, Kommunen …) haben die Möglichkeit, vor einer Auftragsvergabe das Register einzusehen. Potenzielle Auftragnehmer, die keine „weiße Weste“ haben, werden dann von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen.
Im Wettbewerbsregister sind u. a. rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen und Strafbefehle wegen „Steuerhinterziehung nach § 370 der Abgabenordnung“ einzutragen.
Praxis-Tipp
Verfahrenseinstellungen nach §§ 153ff. StPO – insbesondere die Einstellung gegen Geldauflage (§ 153a StPO) – werden dagegen nicht im Wettbewerbsregister eingetragen.
Auch andere Steuerstraftaten (Definition in § 369 Abs. 1 AO) sind nach dem eindeutigen Wortsinn („Steuerhinterziehung nach § 370 der Abgabenordnung“) nicht eintragungsfähig, beispielsweise eine Steuerhehlerei (§ 374 AO).
Immer wieder ist zu hören und zu lesen, dass der GmbH-Geschäftsführer durch eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung gemäß § 6 Abs. 2 GmbHG von seinem Amt als Geschäftsführer ausgeschlossen sei. Das ist jedoch falsch.
Steuerhinterziehung (§ 370 AO) gehört nicht zu den Katalogstraftaten des § 6 Abs. 2 Nr. 3 GmbHG. Insolvenzverschleppung, (Subventions-)Betrug und Untreue sind dort beispielsweise ausdrücklich genannt, aber eben nicht Steuerhinterziehung. Der Katalog ist abschließend.
Denkbar ist nur, dass aufgrund der Steuerhinterziehung ein Berufs- oder Gewerbeverbot ausgesprochen wurde. Dann kommt der Ausschlussgrund des § 6 Abs. 2 Nr. 2 GmbHG in Betracht. Das ist in der Praxis aber eher selten.
Kollege Christian Fautz hielt einen Vortrag zur „Veräußerung eines Mitunternehmeranteils an einer Personengesellschaft unter Berücksichtigung steuerlicher Konsequenzen.“ Daraus ergab sich ein reger Erfahrungsaustausch zur Vertragsgestaltung speziell unter dem Blickwinkel, die Aufdeckung stiller Reserven (und damit eine Versteuerung) möglichst zu vermeiden.
Das nächste Fachkreis-Treffen ist für Ende November / Anfang Dezember 2022 angepeilt.
Zwischen dem Steuer(straf)recht und dem Insolvenzrecht bestehen unliebsame Wechselwirkungen. Befindet sich der Mandant im Insolvenzverfahren oder hat er vor, Insolvenzantrag zu stellen, dann kann die Restschuldbefreiung für Steuerschulden auf der Kippe stehen, wenn der Vorwurf einer Steuerhinterziehung im Raum steht.
Rechtskräftige Verurteilung wegen Steuerhinterziehung schließt Restschuldbefreiung aus
Hintergrund ist § 302 Nr. 1 InsO: Nach dieser Vorschrift sind „Verbindlichkeiten des Schuldners … aus einem Steuerschuldverhältnis“ von der Restschuldbefreiung ausgenommen, „sofern der Schuldner im Zusammenhang damit wegen einer Steuerstraftat nach den §§ 370, 373 oder § 374 der Abgabenordnung rechtskräftig verurteilt worden ist …“
Darunter fällt also insbesondere eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung (§ 370 AO).
Für eine rechtskräftige Verurteilung genügt ein Strafbefehl (vgl. § 410 Abs. 3 StPO), ein „echtes“ Urteil ist nicht erforderlich (BFH, 28.06.2022, VII R 23/21; 07.08.2018, VII R 24, 25/17: sogar Strafbefehl mit Verwarnung mit Strafvorbehalt, § 59 StGB, genügt). Eine rechtskräftige Verurteilung liegt auch dann (noch) vor, wenn die Eintragung im Bundeszentralregister (BZR) schon getilgt wurde (BFH, 07.08.2018, VII R 24, 25/17).
Die rechtskräftige Verurteilung muss auch noch nicht im Zeitpunkt der Forderungsanmeldung vorliegen (BFH, 28.06.2022, VII R 23/21).
Forderungsanmeldung des Finanzamtes mit Attribut „Steuerstraftat“
Insolvenzforderungen müssen (auch) vom Finanzamt gemäß § 174 Abs. 1 InsO beim Insolvenzverwalter zur Tabelle angemeldet werden. Bei der Anmeldung zur Insolvenztabelle sind der Grund und der Betrag der Forderung anzugeben sowie die Tatsachen, aus denen sich nach Einschätzung des Gläubigers (Finanzamt) ergibt, dass ihr eine Steuerstraftat des Schuldners zugrunde liegt (§ 174 Abs. 2 InsO).
Praxis-Tipp
Hat das Finanzamt eine Forderung mit dem Attribut „Steuerstraftat“ zur Insolvenztabelle angemeldet, so hat das Insolvenzgericht den Insolvenzschuldner auf die Rechtsfolgen des § 302 InsO und auf die Möglichkeit eines Widerspruchs hinzuweisen (§ 175 Abs. 2 InsO).
BFH: Attribut „Steuerstraftat“ kann nachträglich angemeldet werden
Allerdings kann dieses Attribut (Tatsachen hinsichtlich Steuerstraftat) auch noch nachträglich (bis zum Schlusstermin, § 197 InsO) beim Insolvenzverwalter angemeldet werden (§ 177 Abs. 1 InsO).
Widerspricht der Schuldner diesem Attribut (die Beschränkung auf das Attribut „Steuerstraftat“ ist zulässig), darf das Finanzamt dazu einen Feststellungsbescheid gemäß § 251 Abs. 3 AO erlassen. Aus diesem Bescheid muss sich ergeben, dass der Schuldner im Zusammenhang mit der Forderung wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt worden ist (BFH, 28.06.2022, VII R 23/21). Der Erlass des Feststellungsbescheides ist nur bis zur Aufhebung des Insolvenzverfahrens zulässig (AEAO zu § 251, Nr. 5.3.2).
Der Ausschluss der Restschuldbefreiung soll nach Auffassung der Finanzverwaltung (AEAO zu § 251, Nr. 15.2) auch dann gelten, wenn die Verurteilung erst nach Beendigung des Insolvenzverfahrens rechtskräftig wird.
Praxis-Tipp
Auch steuerliche Nebenleistungen nach § 3 Abs. 4 AO (z. B. Zinsen und Säumniszuschläge), die nicht im Strafbefehl bzw. im Urteil enthalten sind, werden von § 302 Nr. 1 InsO erfasst.
Jedenfalls sind Einstellungen nach §§ 153ff. StPO – insbesondere Einstellung gegen Geldauflage (§ 153a StPO) – nicht von § 302 Nr. 1 InsO erfasst. In diesen Fällen ist eine Restschuldbefreiung auch hinsichtlich strafbefangener Steuerforderungen möglich.